Montag, 31. Dezember 2012

Ich habe mir lieber zugehört

An vielen Jazzpianisten stört mich, dass sie letztlich nur Skalen, also Tonleitern, wie beim Leistungssport die Klaviatur hoch und runter spielen. Möglichst schnell. Tempo wird damit wichtiger und der einzelne Ton damit unwichtiger. Bei hoher Geschwindigkeit kann das menschliche Gehirn nur noch die Ketten wahrnehmen und nicht mehr den Einzelton, je nach Hörgewohnheit und Gehirnleistungsfähigkeit. Somit können Skalen nur im Gesamten zu Klang werden, nicht aber der einzelne Ton. Wenn einzelne Töne auffallen, dann, weil sie so dissonant sind und das Gehör gar nicht mehr drum rum kommt, sie wahrzunehmen. (Eigentlich müsste man Gehörn sagen, weil letztlich nur das Gehirn hört und das Gehör dazu benutzt.)

Es bleibt die Frage, ob Jazz so unterrichtet wird, das die Virtuosität bzw. die Geschwindigkeit das einzige Mittel ist, sich als guter Jazzer oder besser als andere darzustellen? Sicher, es steckt viel Fleiß dahinter, so geläufig spielen zu können. Aber ich denke nicht, dass die meisten sich auch wirklich mit diesen Fingerübungen ausdrücken wollen. Was sie zu sagen haben, wird hinter rasenden Skalen nicht größer. Vielleicht steckt auch gar nichts dahinter, als der reine sportliche Ehrgeiz, der schnellste zu sein.
Das kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein. Aber man kann auch nicht überprüfen, was Absicht und was Clownerie ist an solch einem Konzertabend.

Mixolydische Skala
Quelle: wikimedia.org

Ich unterrichte musikalische Improvisation auch in enger Anlehnung an Jazztheorie. Jedoch gehe ich nicht unbedingt vom Akkordaufbau. Vielmehr geht es, vor allem wenn der Schüler schon jahrelange Spielpraxis von Kompositionen mitbringt, um das Hören. Das Sich-Selbst-Zu-Hören. Allein dieser Ansatz, das Vertrauen auf sein spielerisches Können und das Sich-Trauen, zu spielen, was man in sich selbst hört, genügt schon gut zu improvisieren. Und auch das bezeichne ich als Jazz. Jazz in seinem Grundgedanken versteht sich als freie Musikform, die zu fast jeder Zeit feste Formen sprengen wollte. Hat dies der Jazz geschafft? Nicht wirklich, denn die Musiker haben nur das System erweitert. Mehr zu gelassen. Das bedeutet nichts anderes, als das Lernen von mehr Tönen und Tonleitern. Mehr Zusammenhängen. Das kann man alles tun und vielleicht wird man virtuos und spielt vor der Jazzpolizei und erntet sogar deren Anerkennung mit mäßigem Applaus und einem Vergleich mit der einen oder anderen Jazzgröße. Aber das hat immer noch nichts mit Hören zu tun.

Ich denke, man kann durch die Beschäftigung mit der "klassischen" Jazzschule sein Material erweitern. Möglichkeiten erkennen und Horiztone sehen. Aber man wird auch da feststellen, dass man sich nur ein anderes Korsett zu gelegt hat. Eines, dass man vielleicht etwas weiter stellen kann. Aber es ist auch nur ein weiterer Dialekt der Musiksprache. Versuche im Freejazz noch freier zu werden und sich ganz dem Klang hinzugeben und nicht der musikalischen Struktur führten nicht zu einer großen Freiheitsbewegung beim Publikum. Vielleicht bei den Musikern.

Um an seinem eigenen Stil zu arbeiten, und das kann ein Ziel im künstlerischen Schaffen sein, muss man sich zunächst selbst zu hören und einfach spielen. Grenzen testen und sich vor allem selbst vertrauen. Irgendwann kann man an dem Punkt sein, zu sagen "Das bin ich. Das ist mein Stil. Und es ist Jazz. Meine Auffassung von Jazz".

Warum erzähle ich das alles? Weil ich erkannt habe, dass das, was ich über Improvisation weitergebe und selbst erfahren habe, sich in Büchern über Jazztheorie wiederfindet, ohne dass ich eines dieser Bücher vorher gelesen habe. Es ist die gleiche intuitive Vorgehensweise, die mit Selbstvertrauen in die eigene künstlerische Arbeit zu tun hat. Musik ist nachwievor etwas intuitives und hat etwas mit Gefühl zu tun. Mit Intellekt hat sie etwas zu tun, wenn man wissenschaftlich analysiert, was passiert ist. Die Musikwissenschaft besetzt diese Nische. Durch Analyse zur Erkenntnis zu gelangen ist ein guter Weg. Und es fühlt sich gut an, immer noch Erkenntnisse zu haben und sie in Büchern wieder zu finden. Ich finde diesen Weg äußerst sinnvoll für mich. Andere lesen vorher viele Bücher, lernen viele Tonleitern und Akkorde auswendig, bevor sie sich selbst zuhören. Nur wenige entwickeln dann noch einen eigenen Stil. Im Gegenteil: Man findet sie Skalen hoch und runter rasend in Jazzclubs mit einer "Vorname Nachname + Besetzung"-Bezeichnung. Und das heißt nicht, dass es nicht ein guter Abend werden kann.

Eine Erkenntnis war für mich in den letzten Wochen sehr entscheiden im Nachdenken über das eigene Spiel: Skalen sind im Grunde nichts anderes als Akkorde und Akkorde sind nichts anderes als Skalen. Ich habe jahrelang gedacht: Irgendwann bist du mal so fleißig und lernst alle Skalen auswendig in allen Tonarten und dann sind deine Improvisationen noch ein bisschen mehr Jazz. Ich war nicht nur zu faul dazu, sondern habe es eigentlich aus einem Grund nicht getan: Ich habe nie verstanden, warum ich etwas auswendig lernen muss, um dann erst sagen zu können, was ich sagen will, um erst dann spielen zu können, was ich will.

Ich habe mir lieber zugehört.

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Wer Lust hat, sich mit der Jazztheorie auseinander zu setzen, dem sei folgendes Buch empfohlen. Es enthält neben gut verständlicher Sprache auch viele Praxisbeispiele, die man nachspielen kann. Um zu Hören, was man verstanden hat ;)


Ein sehr spannender Film über das Leben des Jazzpianisten Michel Petrucciani ist "Leben gegen die Zeit". Sehr bemerkenswert fand ich, dass er sich erst sehr spät für klassische Spieltechnik interessiert hat.



Donnerstag, 6. Dezember 2012

Erwartungen

Was erwarten wir eigentlich von unserem Publikum? Dankbarkeit, tosenden Applaus, Zugabe- und Bravo-Rufe, direktes Feedback, Lob, Autogrammbitten, neue Fans auf Facebook, neue Follower auf Twitter, E-Mails, Direktnachrichten, Weiterempfehlung, Tränen in den Augen vor Vergnügen, lautes Lachen, anerkennendes Nicken, Einträge in Gästebücher, Standing Ovations, anerkennende Artikel in der Fachpresse, Zeitungskritiken, Leserbriefe, Kaufen von Karten für kommende Vorstellungen und Geschenkgutscheine oder nur das Eintrittsgeld?