Samstag, 26. Mai 2012

Melancholische Musik - Umgang mit Kritik

Ein Thema lässt mich seit Wochen nicht los. Nach der ersten Aufführung von Hear and Now Dimensions, unserer Improvisationsperformance mit Musik, Theaterspiel und Licht, gab es Feedback und Kritik von einer Zuschauerin. Nun muss man erst einmal froh sein, dass man überhaupt nach einem Auftritt Rückmeldung bekommt, außer durch die Applausstärke. Mit Meinungen, die nicht so positiv ausfallen, wie man sie als Künstler gern hätte, muss man jedoch umgehen können. Im Idealfall stoßen sie einen Entwicklungsprozess voran und das taten sie auch in diesem Fall. 

Da hieß es, dass meine Musik "sehr melancholisch" gewesen sei. Was für mich in die Richtung "zu melancholisch" geht und sicher auch so gemeint war. Zumindest bestätigte sich dies im Gespräch nach der Aufführung. Weiter wurde gesagt, dass ja eine Komposition, "beispielsweise von Bruckner", nicht nur eine Farbe hätte, sondern möglichst viel bedient an Gefühlen und Stimmungen. Schlicht fehlte der Zuschauerin also die Abwechslung und sie verglich Äpfel mit Birnen, Komposition mit Improvisation, ein Ziel mit einem Weg. Anscheinend hat sie einen bunten Strauß von Melodien erwartet. Und das ist die Crux: Was ist die Erwartung an einen Abend, an dem ausschließlich improvisiert wird? Sollte ich mir als Improvisateur also vornehmen, möglichst viel anzubieten, damit die geneigte Hörerschaft auch nicht gelangweilt ist, wenn an diesem Abend nur eine Stimmung transportiert wird? Ich verfolge den Ansatz, dass eine Improvisation der Ausdruck des Inneren in genau jenem Moment ist, aus dem dann Musik entsteht. Des Weiteren nehme ich mir als Künstler heraus, einen Personalstil auszubilden, wie ihn im Übrigen auch Bruckner hat. Will heißen: Zuschauer hören Stephan Ziron, genau weil er vielleicht in seinen Improvisationen den Zustand der Melancholie in Musik umsetzt. Es mag Zuschauer geben, die gehen in traurige Filme, um genau dieses Gefühl gespiegelt und bedient zu bekommen. Somit wären wir also wieder bei den Erwartungen. Ich kann sicher nicht voraussetzen, dass jeder Zuschauer meinen Stil kennt und sich vor einem Abend mit meiner Musik auseinander setzt. Aber er muss mir zugestehen, dass ich einen Stil habe und genau in diesem Moment eben von Erwartungen à la Abwechslung in den Stimmungen oder Musikstilen oder was auch immer, gehemmt werde. Das ist nicht mein Ansatz von Improvisation. Und ich bin noch lange nicht dort angelangt, wo ich als improvisierender Musiker  mit meiner Ausdrucksweise sein möchte. Ich möchte - Achtung! - noch viel freier spielen, als ich es jetzt tue. Das bedeutet, dass ich wohl noch weniger einigen Erwartungen entsprechen werde. Aber das bedeutet auch im Umkehrschluss, dass ich um so mehr den Erwartungen der Zuschauer entsprechen werde, die auf der Suche nach der gleichen Stimmung sind, die sie auch haben und die sie gern gespiegelt haben wollen. So etwas kann man Polarisation nennen und das soll es auch sein. Ich möchte kein Künstler sein, über den Leute sagen, dass es nett ist, was er macht. Ich möchte ein Künstler sein, wo Zuschauer sagen "Da gehe ich nie wieder hin!" und "Da gehe ich immer wieder hin!". Alle Grautöne sind für mich der Tod meines Antriebs.

Anton Bruckner widmete Richard Wagner seine 3. Sinfonie
Quelle: wikimedia.org

Eine Komposition mit einer Improvisation zu vergleichen ist schlichtweg Schwachsinn. Eine Komposition kann Jahre dauern. An ihr kann ich tüfteln und sie ausfeilen. An der 3. Sinfonie hat Bruckner fast ein Jahr gearbeitet, bevor er sie am Silvesterabend 1873 vollendete. Und mit diesem Maßstab soll eine Improvisation gemessen werden, die in einer Stunde entsteht? Das spannende an Momentmusik ist doch, mit auf die Reise zu gehen und ihre Entwicklung zu verfolgen. Ob ein furioses Finale am Ende steht, steht zu Beginn nicht fest und das ist das Spannende daran. Ob sie "gelingt", was auch immer das heißt, liegt im ganz individuellen Betrachten jeden einzelnen Hörers, mich eingeschlossen. Und ich bin wahrlich nicht jedes Mal zufrieden mit meinen Improvisationen. Aber dieser Grabenkampf zwischen Improvisation und Komposition existiert seit Jahrhunderten, seitdem es Musik überhaupt gibt. Dabei hatte es die Mutter der Musik, nämlich die aus dem Stegreif erfundene Musik, nie leicht mit dem höchst artifiziellen Musizieren der Tonsetzer mitzuhalten. Sie ist und bleibt eine besondere Erfahrung, ein besonderer Weg für Ausführende, wie für Zuhörer.

Carl Dahlhaus schrieb zum Verhältnis Komposition versus Improvisation folgendes:

„Der Begriff der Improvisation, wie er als abgegriffene Vokabel im Umlauf ist,
ohne daß über ihn reflektiert würde, krankt an dem Mangel, eine primär
negativ, durch den Gegensatz zum Begriff der Komposition bestimmte
Kategorie zu sein: ein Sammelname für musikalische Phänomene, die man aus
dem einen oder anderen Grunde nicht Komposition nennen möchte und darum
einen Gegenbegriff zuschiebt [...] Bildet demnach der Begriff der
Improvisation keine Alternative zu dem der Komposition..., so ist dennoch,
jedenfalls in der europäischen Musik, die eine Kategorie in wesentlichen
Zügen durch den Gegensatz zu anderen bestimmt.“

Dahlhaus, Carl (1979), Was heißt Improvisation?, in: Brinkmann, Reinhold (Hrsg.), Improvisation und neue Musik, Veröffentlichung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 20,Mainz, S. 9.


Kurzum: Wenn mir nicht zum lächeln zu mute ist und ich melancholisch bin, hilft mir kein "Lächel doch mal". Man muss Zustände aushalten. Und wer meinen Zustand in meiner Improvisation nicht aushält, also mich nicht aushält, denn nichts anderes bin ich dem Moment meiner Improvisation, weiß wo das grüne Schild leuchtet, dass da den Notausgang in Szene setzt.