Sonntag, 14. November 2010

Du kannst nicht singen! Setzen! Sechs!

Singen liegt in der Natur des Menschen. Es fördert das Gemeinschaftsgefühl und wurde bereits in frühester Zeit im Alltag und in Ritualen praktiziert. Der Klang einer Orgel ist der menschlichen Stimme nachempfunden, der Atem des Menschen gleicht dem Luftstrom in dem Instrument, das oft als Mutter aller Musikinstrumente bezeichnet wird. Die früheste Form der Mehrstimmigkeit im 9. Jahrhundert war Gesang. Historisch betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass die erste Form der mehrstimmigen Gesangs improvisiert war. Viele Völker der Erde improvisieren in ihren Ritualen bis heute. Sogar mehrstimmige improvisierte Chorsätze von Volkswaisen vor allem in östlichen Ländern sind keine Seltenheit. Das Singen gehört zum Leben. Generationsübergreifend werden Lieder gesungen und weitergegeben. Doch halt! Dies soll keine Werbung für mehr Volkslieder in deutschen Wohnzimmern sein. Es soll nur zeigen, dass das Singen etwas sehr natürliches und das gesangliche Erfinden von Musik eine viel ältere Tradition hat, als die scheinbar so perfekte Kunst der Komposition.

Millionen von Menschen in Deutschland wurden und werden nachwievor systematisch traumatisiert. Und das nicht etwa in bekannten Schreckenssituationen, sondern in einer Einrichtung, die uns positiv auf das spätere Leben vorbereiten soll: Die Schule und ihr Musikunterricht. Die Peiniger: Lehrer, Eltern, Familienangehörige, Freunde. Die Opfer: Schüler, die die Tophits der Volkslieder allein und vor versammelter Klasse ohne Begleitung eines Instruments vortragen müssen. Oft hören kleinen Volksliedsänger am Ende ihres Auftritts: "Du kannst nicht singen! Setzen! Sechs!". Spüren Sie bereits Gänsehaut? Dann sind Sie auch ein Opfer dieser musikalischen Nötigungspraxis vieler Musiklehrer an allgemeinbildenden Schulen. Und den meisten ist nicht einmal bewusst, wie schwer sie durch dieses Erlebnis gepeinigt wurden. Seitdem haben die meisten nie wieder nur eine Zeile ohne diverse Alkoholika und in der Gruppe mit anderen Gepeinigten singen können. Eine Tragödie.

Nur wer ist nun Schuld? Sind es wirklich die Lehrer, die eigentlich ja nur ihrem Lehrplan folgen, auf dem der Punkt "Liedkontrolle" steht? Wohl kaum kann man das Böse in den Pädagogen finden, zumal es auch sehr viele Gegenbeispiele gibt, wie so oft und ihrem handwerklichen Verständnis sei Dank.

Ich möchte versuchen das Phänomen der Annahme "nicht singen können" zu umreißen. Es taucht immer wieder zu Beginn meiner Workshops zum Thema "Improvisierter Gesang" auf. Zu Beginn erzählen mir acht von zehn Erwachsenen Menschen, dass sie nicht singen können. Das Spektrum reicht von "Ich singe heimlich allein für mich" über "Ich habe seit der Schule keinen einzigen Ton gesungen" bis "Ich habe Schläge zu Hause bekommen, wenn ich falsch gesungen habe". Bei solchen Aussagen läuft es mir kalt den Rücken herunter. Viele leben auch mit dem Widerspruch "Ohne Musik kann ich nicht leben." oder "Ich singe für mein Leben gern", im geschützten Rahmen eines Workshops trauen sich diese Menschen nicht einen Ton zu singen.

Um dieses Trauma oder diese Blockade zu lösen gehe ich von der Grunddefinition "Singen" aus. Ein gutes Beispiel für die unbewusste Fähigkeit Singen zu können, ist die Verabschiedung einer Verkäuferin mit dem lang gezogenen Wort "Tschüssiiiiiiiii!". Die Verkäuferin würde nicht von sich behaupten, dass sie singen kann, jedoch hält sie jedes Mal, wenn sie Kunden verabschiedet einen Ton auf dem I und intoniert hervorragend. Ich gehe also davon aus, dass Singen erst einmal nur das "Langziehen" von Vokalen ist. Ähnlich wie Tanzen in Grunddefinition die Bewegung zu einem Rhythmus oder zur Musik ist. Was hierbei den Teilnehmern genommen werden soll, sind die Bewertungskategorien "gut" und "schlecht". Es geht nur um die Fähigkeit und die körperliche Voraussetzung für das Singen. Jeder Mensch, der einen funktionierenden Stimmapparat hat, ist in der Lage zu singen und kann singen. Aus Erfahrung hilft es Teilnehmern, wenn zunächst die Aufgabe darin besteht, möglichst dissonant zu sein. Sie sollen also so schräg, wie möglich im Vergleich mit ihren Nachbarn singen. Es geht erst einmal nur um den Zusammenklang von mehreren Menschen. Die Teilnehmer finden es erstaunlich, wie schön es sein kann, allein den Chor zu genießen und sei er noch so dissonant. Ich argumentiere hierbei gern, dass Harmonie ohne Dissonanz nicht möglich wäre bzw. schrecklich klingen würde. Ein Orchester, in dem jedes Instrument hundert prozentig richtig nach Herzzahl gestimmt wäre, würde grausam klingen. Nur die leichte Verstimmung macht einen für uns angenehmen Zusammenklang möglich. Wenn wir es auf die zwischenmenschliche Ebene heben wollten, könnte man sagen: Fehler machen einen Menschen interessant. Nun ist unser menschliches Gehirn und das Gehör jedoch so konstruiert, dass wir uns in Bruchteilen von Sekunden mit anderen synchronisieren können. Das gilt für die Körpersprache, wenn wir uns sympathisch sind, genauso wie für einen gleichen Ton, den wir gemeinsam singen wollen. Improspieler werden es aus Gruppensongs kennen, andere vielleicht aus Fangesängen in Fußballstadien: Eine Gruppe einigt sich auf eine Melodie und auf Töne, die zusammen passen und klingen. Es wird automatisch richtig, wenn es die Gruppe gemeinsam tut.

Ist die Hürde also erst einmal genommen, überhaupt zu singen, sind viele nachwievor unzufrieden, dass sie schief singen. Dies kann man mit mehreren Schritten verbessern. Wenn wir die Kategorie "gut" verwenden wollten, wäre für ein "gut Singen können" ein regelmäßiges Training bzw. Gesangsunterricht nötig. Viele haben auch einfach Naturttalent. Zum Singen gehört jedoch in erster Linie ein gutes Gehör. Das gilt für Musik im Allgemeinen. Der erste Weg Musizieren zu erlernen geht über Musik hören. Vor allem selektives und bewusstes Hören und imitieren, hilft Musik zu erlernen. Zwei weitere Dinge sind aber auch für den Hausgebrauch oder der Improbühne hilfreich: Erstens gilt immer, dass ein langweiliges Gesicht auch einen langweiligen Ton hervorbringt. Ein kleines Lächeln und Achten auf die Spannung und Ausstrahlung hilft bereits den Ton besser halten zu können. Zweitens gilt auch hier das Behauptungsprinzip, wie beim Theaterspiel auch. Je mehr ich mir selbst bewusst bin, dass ich singe und das auch will, desto besser wird der Ton gehalten werden können. Eine zittrige, schlechte Intonation hat auch damit zu tun, dass man unsicher ist. Sich ein inneres Bild zu machen, von dem was ich Singen will, hilft auch bei der Umsetzung. Ähnlich der Imagination von Wochentagen, ist es möglich sich eine Vorstellung von Musik zu machen. Dazu hilft es sich Dinge begreifbar, im wahrsten Sinne des Wortes, zu machen. Dies kann von Treppenstufen bis zu Wellenbilder für Melodien gehen. Da muss jeder selbst, sein persönliches Bild finden.

Ein weiterer Schritt hin zum improvisierten Singen ist, die Informationsebene auszuklammern. Viele sind überfordert, wenn sie eine Melodie und auch noch einen sinnvollen Text erfinden müssen. Und selbst, wenn sie es nicht müssen, legen sie sich es selbst auf, weil sie orginell sein wollen. Auch das passiert häufig beim Improtheaterspiel. Die Regel "Sei nicht orginell" fruchtet auch hier. Eine gute Möglichkeit ist das Singen in Gromolo bzw. Kauderwelsch. Als Inspiration kann ein Land und die eigene Vorstellung der jeweiligen Landessprache sein. Die Teilnehmer können sich nun ganz auf die Melodie konzentrieren. Man kann hierbei sogar die Ebene "Rhythmus" herausnehmen, in dem man eine Phrase auf liegenden Akkorden singt. Es gibt immer hin 12 Halbtöne, die kombiniert werden können. Da setzt ein treibendes Metrum des Musikers nur zusätzlich unter Druck, wenn man die eins nicht findet.

Möchte man doch Text singen, geraten viele in die "Reim dich oder ich fress' dich-Falle". Es wird dann immer sofort auf die Zeile gereimt, die gerade erfunden und vorgegeben wurde. Aber allein erst eine Zeile später zu reimen, nimmt sehr viel Stress aus der Sache und klingt viel interessanter und schwieriger, obwohl das viel einfacher ist. Eine Reimform ABAB ist also viel sinnvoller, als AABB. Dennoch weise ich immer wieder darauf hin, dass sich Texte nicht immer reimen müssen.

Eine hilfreiche Information für die Improsänger ist auch, dass sie in Songs nicht immer die Handlung vorantreiben müssen. Wie viele Songs müssen wir hören, die mit "Ich ging dort hin, habe den getroffen und habe das gemacht" beginnen. Atmosphäre zu machen und zu beschreiben in Liedern ist keine Schande und orginell genug!

Eine Grundform des Theaterspiels ist die Zug-um-Zug-Spielweise. Dieses kann man auch im Gesang und vor allem Duett nutzen. Wichtig hierbei ist auch, dass man sich erstens Zeit lässt und sich zweitens auch der Reimform ABAB bedient. Zeit lassen kann auch bedeuten, dass man dem Musiker einfach eine Strophe für ein Solo lässt. Der Sänger kann durchatmen und der Musiker kann sich auszeichnen. Zug um Zug eben.

Teilnehmer, die große Hemmungen vor dem Singen und dem damit verbundenen emotionalen Öffnen hatten, konnten mit der Wegnahme der Bewertungskategorien Gut/Schlecht, sowie der Informationsebene in Liedern, große Fortschritte und Erfahrungen mit dem Singen machen, obwohl sie Jahre lang keinen Ton sangen. Das Reimschema ABAB und die Information, dass man sich Zeit lassen kann, weil Bühnenzeit anders vergeht, als Zuschauerzeit, sind ebenso sinnvoll und hilfreich für das improvisierte Singen. Mit diesen wenigen Tipps haben es bisher neun von zehn Teilnehmern geschafft, ein Lied vollständig zu improvisieren und es im Nachhinein als große emotionale Erfahrung zu beschreiben. Einige von ihnen geben sogar an, das Singen zu einer regelmäßigen Gewohnheit werden zu lassen, weil es großen Spaß macht vor allem mit anderen zusammen. Und in ein paar Jahren sehen wir uns im Workshop zum Thema "Improvisierter mehrstimmiger Chorsatz". Unsere vornehmlich osteuropäischen Nachbarn würden sich wundern, dass wir dafür Workshops machen müssen, während es dort von Kindesbeinen an üblich ist, Volksweisen in improvisierten Chorsätzen zu singen. Einfach weil gemeinsam Singen Spaß macht!